Die Vielzahl der Krisen, in die die westlichen Regierungen ihre Länder geführt haben, beschert uns gelegentlich ulkige Propagandapannen. Vor allem wenn sich die Narrative ins Gehege kommen. Eine Dozentin der Sorbonne erklärt nun, warum Russland ganz kurz vor dem Zusammenbruch steht: die Einwanderer sind schuld!
Françoise Thom, Dozentin an der Pariser Sorbonne erklärt im Publikationsorgan „desk russie“ warum wir nur noch ein ganz kleines bisschen durchhalten müssen, dann wird Russland schon zusammenbrechen. „Wir“, die durchhalten müssen, damit meint Thom offenbar die westlichen Eliten, zu denen sie sich selbst zählt. Die jungen und inzwischen auch zunehmend alten ukrainischen Männer, die in den Schützengräben verbluten, zählen nicht zu diesem „wir“.
Ja, Russland hat ein Einwanderungsproblem
Aber Russland ist kurz vor dem Ende und das werden „wir“ doch wohl noch abwarten können. Warum ist Russland kurz vor dem Ende? Nun da musste Frau Thom doch etwas graben und ist auf Russlands eigenes Migrations- und Überfremdungsproblem gestoßen. Das existiert tatsächlich. Entgegen einer Verklärung Putins im rechten Lager, sehen russische Nationalisten den Mann seit zwei Jahrzehnten oft sehr kritisch. Der Vorwurf: Putin tue nichts gegen die Überfremdung Russlands, vor allem durch muslimische Migranten aus Zentralasien.
193 ethnische Gruppen
Die Behauptung, Putin sei eine Art russische Angela Merkel, ist ein Vergleich der zwar an vielen Stellen hinkt. Aber er ist der auf innere Stabilität ausgerichtete Herrscher eines Vielvölkerreiches. Beim Zensus 2021 gaben 81 Prozent der Bewohner Russlands an, ethnische Russen zu sein. Der Rest verteilt sich auf über 193 ethnische Gruppen. Ein russischer Ethnonationalist ist Putin schon deshalb nicht. In jüngster Zeit ist seine Rhetorik einwanderungskritischer geworden, ob dem Taten folgen werden, wird man abwarten müssen.
Zuwanderer kommen meist aus den ehemaligen Sowjetrepubliken
Zu Beginn von Putins Herrschaft strömten zahlreiche Menschen aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken nach Russland, was das Land zwischen 2003 und 2006 zum zweitgrößten Einwanderungsland der Welt machte. Dazu kam die innerrussische Binnenmigration von Muslimen in die großen Städte. Das macht sich vor allem in Moskau bemerkbar, einer Stadt in der ethnische Russen inzwischen in der Minderheit sind. Françoise Thom zieht noch ganz andere Zahlen hervor. Weil dem Land nach Angaben des im Exil lebenden Unternehmers Konstantin Samoilov allein 1 Million IT-Leute und 1,5 Millionen Arbeiter in der Rüstungsindustrie fehlen würden, sei die Tür sperrangelweit offen.
Quelle: Youtube
Diese Zahlen, für die sich Thom offenbar vor allem auf Youtube-Videos in russischer Sprache stützt, sind doch fragwürdig. Was stimmt ist, dass Russland im Jahr 2023 sein Einbürgerungsrecht grundlegend überarbeitet hat. Die Änderungen sind vielfältig, von der Gesamtrichtung her, wird die Einbürgerung allerdings erschwert. Die normale Einbürgerung ist nun an zusätzliche Bedingungen geknüpft (Sprachnachweis, keine Vorstrafen), die Bedingungen für erleichterte Einbürgerung für Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion wurden verändert. Reichte früher die Kenntnis der russischen Sprache, so muss man nun die Abkunft von einem Menschen nachweisen, der dauerhaft in der UDSSR, oder dem Zarenreich gewohnt hat. Auch der Entzug der Staatsbürgerschaft wurde vereinfacht.
Falsche Zahlen
Russland hat also ein Migrationsproblem. Aber, soweit können alle Russlandfreunde beruhigt sein, so schlimm wie es Françoise Thom darstellt, ist es nicht. Es kamen im Jahr 2023 keine 2 Millionen Usbeken ins Land, das ist vielmehr die Gesamtzahl der in Russland lebenden Usbeken. Und die 4 Millionen Einwanderer bezeichnet die Bruttoeinwanderung, es wandern aber fast genauso viele wieder aus. Welch ein Glück, denn da Einwanderung ja eine Stärke ist, wären die Russen sonst längst in Warschau. Doch so positiv sieht Françoise Thom Einwanderung auf einmal doch nicht. Wenn bewiesen werden muss, dass Russland kurz vor dem Zusammenbruch steht und „wir“ nur noch ein kleines bisschen durchhalten müssen, dann bedroht Einwanderung auf einmal doch die Stabilität von Staat und Gesellschaft.