09. September 2024

Ein lupenreiner Eurokrat

(Bildmontage: Heimatkurier Barnier: https://fr.wikipedia.org/wiki/Michel_Barnier#/media/Fichier:Michel_Barnier_2023_cropped.jpg Hintergrund: Grok)

Dass das Linksbündnis um Jean-Luc Mélenchon die meisten Abgeordneten in der Assemblée Nationale hat, obwohl der Rassemblement National die meisten Stimmen erhielt, ist Macrons Werk. Dann ernennt er aber anstatt eines Linken den Eurokraten Michel Barnier zum Premierminister. Was will Macron? Und wer soll da Frankreichs nächste Regierung bilden?

Michel Barnier ist ein lupenreiner Eurokrat. Seine Laufbahn ist prototypisch für eine Sorte Politiker, die es auf der nationalen Ebene nicht in die erste Reihe schaffen, aber in der abgeschlossenen Blase der Brüsseler Politik gedeihen. Vor allem, weil ihre Antwort auf alle Fragen stets „mehr Europa“ lautet, und ginge es um Krötentunnel oder Spielplätze. Barnier ist Antreiber, vor allem aber selbst Produkt der eurokratischen Selbstermächtigung.

Karriere in Brüssel

Barnier gehört der Partei Les Républicains an, die bis 2015 Union pour un Mouvement Populaire hieß und eine der Erben des Gaullismus ist. Anders als de Gaulle war Barnier aber seine gesamte Karriere ein unbedingter Verfechter der europäischen Einigung. Seine Karriere spiegelt das wider: Sein erstes Ministeramt in den 90ern war das des Umweltministers. Dann wurde er französischer Europaminister und Leiter des Europaausschusses im französischen Senat. 1999 wurde Barnier französischer EU-Kommissar. 2004 wechselte er als Außenminister wieder in die französische Nationalpolitik, erhielt aber schon ein Jahr später bei der nächsten Regierungsbildung kein Ministeramt und ging zurück nach Brüssel, diesmal als Sonderberater des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso. Von 2009 bis 2014 war er EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen. 2015 ernannte ihn Jean-Claude Juncker zum Sonderberater für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

Brüssels Brexit-Mann

Dann, 2016, übernahm er sein bisher bezeichnendstes Amt: Chefunterhändler der EU-Kommission für die Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreiches. In dieser Funktion, die er bis 2021 ausübte, gelang es ihm, die Briten auf die Verkehrsbestimmungen zwischen dem britischen Nordirland und der weiterhin zur EU gehörenden Republik Irland festzunageln. Aus Brüsseler Sicht galt es erstens, die Briten für ihre Unbotmäßigkeit zu bestrafen, und zweitens, den Brexit praktisch bedeutungslos zu machen und Großbritannien weiterhin an so viele EU-Vorgaben wie möglich zu binden. „Not in the EU but governed by the European Union“ ist die Vorstellung nationaler Souveränität, die man in Brüssel für die europäischen Staaten hat, die sich nicht unterwerfen wollen. Nach dem offiziellen Ende der Brexit-Verhandlungen ernannte Ursula von der Leyen ihn zum Sonderberater für die Ratifikation der Verträge.

Eurokratischer Problemlöser als Premierminister

Im letzten halben Jahrzehnt seiner Karriere war Barnier also hauptsächlich Problemlöser für die größte Zerreißprobe der Europäischen Union gewesen – und aus eurokratischer Sicht ein erfolgreicher. Gegenüber den Briten war Barnier in der deutlich stärkeren Verhandlungsposition. Wenn sie es will, dann kann die Europäische Union jedes kleinere europäische Land wirtschaftlich ruinieren. Barniers größte Herausforderung bestand darin, die nackte Erpressung mit einem Vorwand zu bemänteln. Dass er oder jemand aus seinem Stab dafür die Nordirlandfrage gefunden hat, war ganz clever.

Macron gegen die Neue Volksfront

Nun aber hat Macron ihn damit beauftragt, eine französische Regierung zu bilden. Das ist für Barnier eine ganz andere Situation als die, in der er sich fünf Jahre lang den Briten gegenübersah. Mit Barniers Ernennung stellt sich Macron ganz bewusst gegen das linke Parteienbündnis der Nouveau Front Populaire (NFP), der „Neuen Volksfront“ des Linkspopulisten Mélenchon. Der NFP ist ein Parteienbündnis, das mit seinem Namen ganz bewusst an das Bündnis zwischen Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten im Frankreich der 30er-Jahre anspielt. Nach ihrem Wahlsieg hatte Macron sich geweigert, einen Premierminister aus dem NFP zu ernennen, was ihm als stärkster Kraft im Parlament nach politischer Gepflogenheit zugestanden hätte.

Macron hat die Neue Volksfront stark gemacht

Dass der NFP überhaupt so stark wurde, hat Macron selbst zu verantworten. Das französische Wahlrecht sieht nicht nur für die Präsidentschaftswahlen, sondern auch für die Wahlen zur Assemblée Nationale ein Mehrheitswahlrecht mit zwei Runden vor. Das heißt: Die Wahl entscheidet sich erst im zweiten Wahlgang. Bei diesem zweiten Wahlgang treten fast immer nur noch die beiden Kandidaten an, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben. Einen Parlamentssitz kann also nur bekommen, wer im zweiten Wahlgang die Mehrheit erringt. Es ist ein Wahlrecht zur Absicherung des Establishments: Unter diesem System kann auch eine Partei mit zweistelligen Zustimmungswerten kaum einen Parlamentssitz erringen, wenn sich im zweiten Wahlgang alle anderen gegen sie zusammentun. Unter de Gaulle wurde dieses System hauptsächlich dazu eingerichtet, um den damals starken Kommunisten die parlamentarische Repräsentation zu verweigern. In den folgenden Jahrzehnten war der Front National, der heutige Rassemblement National, der Hauptgeschädigte dieses Wahlrechts. So auch bei dieser Wahl. Macron unterstützte in den Stichwahlen die Kandidaten der Neuen Volksfront, wodurch diese die meisten Sitze errangen, obwohl der RN im ersten Durchgang die meisten Stimmen bekommen hatte.

Le Pen auf einmal mit Macron?

Nun versucht Macron aber, seine Bündnispartner von gestern zu betrügen. Der Sache nach ist die Situation wie folgt: Der Präsident weigert sich schlicht, die Wahlen anzuerkennen, die er selbst ausgerufen hatte. Denn man erinnere sich, dass Macron selbst es war, der das Parlament aufgelöst und die Wahlen vorgezogen hatte. Deshalb gehen die Linken dieser Tage massenweise gegen Macron auf die Straße. Derweil hat Marine Le Pen signalisiert, dass sie sich die Unterstützung einer Regierung Barnier zumindest vorstellen kann, auch wenn sie sich noch auf nichts festlegt. Wird Le Pen am Ende darauf eingehen? Ihr einziges Ziel im Leben, das hat sie wieder und wieder unter Beweis gestellt, besteht darin, doch noch eines Tages Präsidentin zu werden. Aus ihrer Sicht muss sie dazu die Allparteienkoalition gegen sich aufbrechen. Inhalte, Prinzipien und das französische Volk kommen für Le Pen danach.

Kurzfristiger Machiavellismus

Und Macron? Wird Macron nun, nachdem er die Rechten durch die Linken an der Urne klein gehalten hat, wieder nach rechts schwenken? So sieht es aus, doch das wäre ein sehr kurzfristiger Machiavellismus. Lange würde Macron sich durch eine solche Schaukelpolitik nicht halten können, es sei denn, er würde in einer zwischen Links und Rechts zerrissenen Republik tatsächlich die Diktatur übernehmen.

Kommt eine Diktatur der Mitte?

In dieser Perspektive ergäbe ein Mann wie Michel Barnier Sinn. In Polen hat sich nach dem Sturz der konservativen PiS durch den EU-Funktionär Donald Tusk gezeigt, dass Brüssel durchaus den Rückhalt für eine Regierung bilden kann, die im Namen der europäischen Werte den Rechtsstaat suspendiert, unliebsame Richter entlässt und Oppositionelle verhaftet. Frankreich gilt seit 1789 als das politische Labor Europas. Was dort geschieht, überträgt sich oft auf weite Teile des Kontinents. In Frankreich ist nun durch die von Macron selbst angesetzten Wahlen die Situation gekommen, die das Establishment mehr als alles fürchtet: Ohne Parteien von Linksaußen oder Rechtsaußen ist keine Regierung mehr zu bilden. Wenn Links und Rechts aber selbst nicht in der Lage sind, eine Regierung zu bilden, dann ist eine Diktatur der Mitte sehr wohl denkbar. Ob nun Mehrheiten zustande kommen oder nicht, irgendwer muss ja regieren!

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