Seit mehr als einer Woche bestimmt der Nahost-Konflikt nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch die Straßen europäischer Städte. Wir haben anlässlich dessen mit dem Wiener Publizisten Martin Lichtmesz über die Bedeutung des Konfliktes für Europa im Spannungsfeld zwischen Überfremdung und Schuldkult gesprochen.
„Wir sind alle Israelis“ verlautbarte Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Israel. Tatsächlich ermahnen Politiker und Journalisten die deutsche Öffentlichkeit seit Tagen, dass es die historische Pflicht Deutschlands sei, an der Seite des jüdischen Staates zu stehen. Gleichzeitig demonstrieren nahezu täglich tausende Migranten auf deutschen Straßen ihre Solidarität mit Palästina. Wie sollte sich die Rechte angesichts dieses Spannungsfeldes verhalten? Darüber haben wir kürzlich mit dem Wiener Publizisten Martin Lichtmesz gesprochen.
Lieber Martin! Der neu aufgeflammte Konflikt im Nahen Osten ist innerhalb kürzester Zeit bei uns angelangt. Er dominiert nicht nur die öffentliche Debatte, sondern wird Dank des Bevölkerungsaustausches auch mitten auf unseren Straßen ausgetragen. Was löst die aktuelle Situation bei dir als langjährigen scharfsinnigen Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Geschehens aus?
„Auslösen“ tut es nun nicht viel bei mir persönlich. Vielleicht weil ich durch die langen Jahre abgestumpft bin, oder vielleicht auch einfach deshalb, weil sich die Szenen und Medienreaktionen wie in einer Dauerschleife wiederholen. Diesmal haben wir es freilich mit einer Eskalation zu tun, die die gesamte Problematik für Israel, Palästina und den Rest den Welt, zu dem leider wir auch gehören, auf eine kritische Stufe heben könnte.
Wir stecken aus drei Gründen drinnen: Identitätspolitisch, weil der „Schuldkult“, aus dem Israel sein moralisches Kapital bezieht, bei uns herrschende Doktrin ist, einwanderungspolitisch, weil sich in unserem Land eine erhebliche Anzahl unruhiger israelfeindlicher Migranten befindet, die auch uns nicht besonders mögen und auf ihren anti-israelischen Demos auch ihre eigene demographische Macht zur Schau stellen, und geopolitisch, weil Israel im amerikanischen Imperium, unter dessen Herrschaft wir stehen, eine exponierte Rolle spielt.
Auffällig ist jedenfalls auch, wie die Medien einmal mehr von einem Tag auf den anderen „umschalten“ und ein neues Thema setzen, das hysterisch rund um die Uhr auf allen Kanälen abgespult wird. Der stagnierende „Ukraine“-Chip ist offenbar langweilig geworden, nun wurde ein neues Programm eingeworfen, das mit dem alten immerhin gemein hat, dass auch diesmal die bien-pensants der liberalen Welt die Erlaubnis bekommen haben, sich guten Gewissens und ohne Hemmungen im Blut- und Kriegsrausch suhlen, ein Angebot, dass sie enthusiastisch annehmen. Wer sich abwägend äußert, wird sofort als Verharmloser oder gar Komplize des Terrors gebrandmarkt, ähnlich wie angesichts des russisch-ukrainischen Krieges.
Der Konflikt bringt deutlich die Bruchlinien zwischen dem israelsolidarischen Establishment und einer zunehmend selbstbewusst auftretenden migrantischen (Parallel-)Gesellschaft zum Vorschein. Was sagt das über den Zustand des realexistierenden Multikulturalismus aus? Und wie sollte man sich hier als Rechte sinnvoll positionieren – ist das überhaupt möglich?
Nun, da weder das Establishment noch die besagten migrantischen Gesellschafter unsere Freunde sind, sind wir erneut gefordert, uns selbstbewußt auf unserer eigenen Seite zu positionieren, und zu fragen, ob eine Parteinahme für Israel oder Palästina unseren Interessen dient. Werfen wir uns Israel an den Hals, hängen wir im transatlantischen und neokonservativen Netz, und zementieren außerdem etliche Prämissen des „Schuldkults“ in seiner judäozentrischen Auslegung. Stellen wir uns an die Seite der Palästinenser, sitzen wir mit einer Menge Leute im Boot, die ebenfalls unseren Interessen diametral entgegenstehen: Antikolonialisten, Islamisten, „Black Lives Matter“ usw., die eine „universalistische“ Deutung des Schuldkults vertreten. Freilich gibt es auch mit beiden Seiten inhaltliche Überschneidungen, mit rechten Juden ebenso wie mit linken Antimperialisten. Aber auch dies zeigt umso deutlicher, dass wir in einer Kneifzange sitzen, in der wir leicht zum Spielball oder nützlichen Idioten der einen oder der anderen Seite werden können.
Ich möchte aber festhalten, dass auch eine komplett amoralische oder rein machiavellistische Haltung unzureichend wäre. Man kann nicht allen Ernstes das Massaker der Hamas noch die Vergeltungsschläge Israels abfeiern, wie das gerade auf beiden Seiten geschieht, und wir haben ja seit Jahren beobachten können, dass diese Art der Kriegsführung nichts löst, sondern nur das Blutvergießen perpetuiert und den wechselseitigen Hass und Wunsch nach Auslöschung des anderen füttert. Wenn überhaupt, wäre es nun unsere Aufgabe, eine Stimme der Vernunft und der Besonnenheit zu bleiben, ruhend in unserer eigenen Mitte, auch wenn wir selbst keine oder nur sehr wenig politische Macht besitzen.
Angesichts der unzähligen Palästina-Demos arabischer und muslimischer Migranten entdecken Linksliberale und Konservative plötzlich ihr Herz für Abschiebungen und Remigration. Viele fordern sogar den Entzug von Staatsbürgerschaften und eine Gesetzesreform – deutscher Staatsbürger sollte künftig etwa nur werden, wer sich unbeschränkt zum Existenzrecht Israels bekenne. Wie ist diese offensichtliche Schizophrenie zu erklären?
„Konservative“ bespielen dieses Argument ja schon lange, wir kennen es aus der Blütezeit des „Counterdjihad“, der eine Frucht der Bush-Ära war, die aus dem Schock des „False Flag“-Angriffs „9/11“ hervorgegangen ist. Man hielt den Verweis auf die Israelfeindlichkeit vieler muslimischer Einwanderer für ein besonders gutes Argument gegen die Masseneinwanderung, denn wenn irgendetwas in Deutschland als Gipfel des Bösen gilt, dann ist es der „Antisemitismus“. Andere Legitimationen haben demgegenüber weniger Wirkung, oder sind gänzlich tabu geworden. Argumentiert man beispielsweise, dass der lslam mit unserer Kultur unvereinbar ist oder dass Millionen von Levantinern unsere demographisch-ethnische Zusammensetzung verändern, dann erntet man den Vorwurf, dass eine solche Denke zu Nationalsozialismus und – Antisemitismus führen würde. Das ist wohl auch ein Grund, warum jüdische Organisationen in Deutschland und Österreich sich in der Regel eher abwiegelnd verhalten haben, wenn der muslimische Antisemitismus oder Antizionismus als Argument für Modifikationen der Einwanderungspolitik ins Feld geführt wurden, denn sie wollten das primäre Projekt der multikulturellen Gesellschaft nicht sabotieren, das sie für geeignet halten, den Juden dauerhaften Schutz zu bieten. Etliche Juden haben dies inzwischen als Fehlkalkulation erkannt, ohne jedoch maßgeblichen politischen Einfluß zu haben.
Wenn nun auch Linksliberale auf dieses im Kern neokonservative Argument zusteuern, dann wohl deswegen, weil der Schock über die „Al-Aqsa-Flut“ so stark war. Bislang hat die Hamas ja kaum mehr erreicht, als immer wieder ein paar Raketen Richtung Israel zu ballern. Wenn Israel dann zurückschlug, wurde ein zigfaches an Arabern getötet, nicht zu knapp Zivilisten und Kinder. Nun schaut die Lage anders aus, und Linksliberale denken, dass sie, wie im Fall Ukraine, todsicher auf der richtigen moralischen Seite stehen. Man kann daran erkennen, dass sie keine festen Prinzipien haben und sehr leicht durch Emotionen und Propaganda gesteuert werden. Darum glaube ich auch nicht, dass sich mit diesen Leuten langfristig eine Remigrationspolitik durchziehen ließe. Diese damit zu begründen, dass die Gruppen, die man in ihre Heimatländer zurückschicken will, im buchstäblichen Sinne nicht „koscher“ seien, wäre vielleicht kurzfristig wirksam, aber auf lange Sicht problematisch, da es eben vorrangig um unser eigenes Existenzrecht und nicht das von Israel gehen sollten.
Findet hier nicht zuletzt auch ein Kampf unterschiedlicher „Hierarchien der Opfer“ statt? Traditionell genießen die Juden aufgrund der deutschen Vergangenheit einen besonderen Schutzstatus. Doch zahlreiche Migranten kritisieren Israel wegen seiner „kolonialen“ und „imperialen“ Politik – die sie im weitesten Sinne auch uns Europäern vorwerfen – und sehen sich als eigentliche Opfer. Welche Dynamik steckt hier dahinter?
Natürlich gibt es hier einen Wettkampf um die „Hierarchie der Opfer“. Die Juden stehen in dieser Hinsicht immer noch an der Spitze, aufgrund der Deutung des nationalsozialistischen Völkermords als „singulären Zivilisationsbruch“, dem eine geradezu sakrale Bedeutung zugesprochen wird. Der „Holocaust“ hat im Westen lange Zeit die Rolle einer Art Religion gespielt, mit allem, was dazu gehört: Priester, Heilige, Reliquien, Kultorte, Ketzer, Mysterien, Ikonen, und eine scholastische Theologie, die ihren Teufel, das absolut Böse in der mythischen Figur des „Nazi“ verkörpert sieht, der jeden Moment wieder auferstehen und sein Unheil treiben kann. Diese sakrale Erhöhung und Verabsolutierung des „Holocaust“ (ein Begriff mit religiöser Konnotation), die eine Quelle erheblicher politischer Macht ist, wird seit einiger Zeit von einer Gegenkirche in Frage gestellt, die letzteren in der Tat zu „relativieren“ trachtet, indem der „Schuldkult“ auf den westlichen Kolonialismus ausgeweitet wird und die Schuld des weißen Mannes gegenüber anderen Rassen und Völkern schlechthin ins Zentrum gerückt wird.
Als exemplarisch für diesen Streit um die Deutungshoheit und Opferhierarchie könnte man die Debatte um Achille Mbembe nennen, der die „Apartheidregime“ in Südafrika und Israel und „die Vernichtung der europäischen Juden“ als „emblematische Manifestationen“ ein- und desselben „Trennungswahns“ bezeichnete. Es darf nicht vergessen werden, dass auch andere westliche Nationen ihre „Schuld“ längst zu einer anti-nationalen Identitätspolitik institutionalisiert haben: In den USA die Schuld gegenüber Afroamerikanern und Indianern, in Großbritannien gegenüber Indern und Pakistani, in Frankreich gegenüber Nord- und Schwarzafrikanern und so weiter, was einhergeht mit einer durchdringenden demographischen Aushöhlung und Umformung dieser Nationen, die immerhin im Gegensatz zu den Deutschen zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs zählen. Der Zionismus ist zumindest in seinen Ursprüngen europäisch, ein Produkt des nationalen Gedankens des 19. Jahrhunderts. Sobald osteuropäische Juden in der zionistischen Bewegung die Führung übernahmen, wurde der Zionismus mit einem messianischen Impetus aufgeladen, was zur Folge hatte, dass bald kein anderes Land als Palästina mehr in Frage kam, um eine verortete jüdische Nation zu begründen (Herzl mochte das Land nicht besonders und wäre auch mit einem anderen zufrieden gewesen). So kann man Israel in der Tat als einen verspäteten Nachzügler des europäischen Kolonialismus betrachten. Im „antikolonialen“ Diskurs wird die Sonderstellung der Juden und damit auch des „Holocaust“ in Frage gestellt.
Bezeichnend ist aber auch, dass beide Seiten am Paradigma des „Nazi“ als metaphysischem Bösen festhalten. Das führt dazu, dass die einen Hamas und die Palästinenser, die anderen Israel und die Zionisten als „neue Nazis“ brandmarken. Der „Nazi“ ist generell in der heutigen Welt der säkulare Allzweck-Satan-to-go. Und da „Nazis“ in der herrschenden Mythologie keine Menschen, sondern leibhaftige Teufel sind, stehen den Vernichtungsimpulsen wenig moralische Hemmungen entgegen. Auf der arabischen Seite werden diese Hemmungen natürlich auch durch massive dschihadistische und religiöse Aufladung beseitigt.
Kann man diesen Konflikt unterschiedlicher Hierarchien als Rechte strategisch nutzen – oder ist ein derartiges „Spiel mit dem Feuer“ aussichtslos?
Wir besitzen zuwenig Macht, um die beiden Gruppen gegeneinander auszuspielen, falls du das meinst. Und sie sind sich ja in einem einig, dass souveräne, relative homogene, ethnokulturell gefestigte weiße Nationen ohne Gewissenbisse ein Feind sind – die einen, weil sie denken, dass diese unweigerlich zu Antisemitismus und Holocaust, die anderen, weil sie denken, dass diese zu Kolonialismus und Rassismus führen müssen. Ich glaube, uns bleibt momentan nichts anderes übrig, als unsere Position beharrlich und rational fundiert zu vertreten, vielleicht als eine Art „weiße Zionisten“, deren Staat noch in der Zukunft liegt, frei nach Theodor Herzl: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“
So zynisch es auch klingen mag: Man hat aktuell den Eindruck, dass der Schuldkult die letzte Bastion deutscher Identität im 21. Jahrhundert ist. Wie kann es uns gelingen, aus diesem psychologischen Gefängnis auszubrechen und eine selbstbewusste, deutsche Identität – fernab von Schuldneurosen und Ersatznationalismus – zu entwickeln?
Der „Schuldkult“ mag in einem gewissen Sinne eine „Bastion deutscher Identität“ sein, aber diese Identität ist eine „Anti-Identität“, die auf die Auflösung des Deutschen angelegt ist. Wie wackelig dieser Boden der eigenen Identität auch in unserem Lager ist, zeigt sich mitunter daran, dass die Versuchung zum Ersatzpatriotismus für viele sehr groß ist – sie werden dann israel-, ukrainer- oder russennärrisch oder fangen an, Sympathien für den Islam zu entwickeln und ihn als potentiellen Verbündeten zu betrachten. Unsere Aufgabe wäre es wohl, uns persönlich auch innerlich von „Schuldneurosen und Ersatznationalismus“ abzukoppeln, um somit ein Beispiel zu geben, dass man auch anders denken und leben kann.
Lieber Martin, herzlichen Dank für das Gespräch!